Welche OCEAN-Dimensionen sind im Marketing wirklich relevant? Eine praxisnahe Orientierung für datengetriebene Entscheider

Das OCEAN-Modell der Persönlichkeit hat sich in den vergangenen Jahren als wirkungsvolle Grundlage für psychografisch fundiertes Marketing etabliert. Es erlaubt eine differenzierte Betrachtung individueller Merkmale und ermöglicht eine präzisere Zielgruppenansprache als rein demografische oder verhaltensbasierte Modelle. Doch im operativen Alltag stellt sich häufig eine ganz praktische Frage: Muss wirklich immer mit allen fünf Dimensionen gearbeitet werden – oder reicht es, sich auf ausgewählte Aspekte zu konzentrieren?

Experten-Tipp: Am Ende des Beitrages finden Sie eine komprimierte Übersicht

vom Autor Matthias Weber

Welche OCEAN-Dimensionen sind im Marketing wirklich relevant? Eine praxisnahe Orientierung für datengetriebene Entscheider

Die Antwort fällt differenziert aus. Zwar bietet das vollständige Fünf-Faktoren-Modell (Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness und Neuroticism) eine solide theoretische Basis. Doch in der Praxis zeigt sich: Der gezielte, kontextabhängige Einsatz einzelner Dimensionen ist oft effektiver, effizienter und ethisch reflektierter als die pauschale Anwendung des gesamten Modells.

Im Folgenden werden verschiedene Marketingkontexte beleuchtet und jeweils die Persönlichkeitsdimensionen identifiziert, die für den Erfolg einer Kampagne oder Kommunikationsstrategie besonders relevant sind. Ziel ist es, eine pragmatische Orientierung für Marketing-Entscheider zu bieten, die psychografische Modelle datengetrieben einsetzen möchten – ohne dabei den Überblick zu verlieren.

Social Media und Community-Aufbau: Extraversion und Agreeableness im Fokus

Im Bereich Social Media, Influencer Marketing und Community Management stehen zwei Persönlichkeitsdimensionen besonders im Mittelpunkt: Extraversion und Agreeableness. Extravertierte Menschen neigen dazu, sich aktiver, offener und spontaner an sozialen Interaktionen zu beteiligen. Sie liken, kommentieren, teilen – und das mit einer Frequenz, die deutlich über dem Durchschnitt liegt. Ihre Kommunikationsfreude macht sie zu natürlichen Verstärkern von Reichweite und Engagement.

Ergänzend dazu spielt auch Agreeableness, also die Verträglichkeit, eine wichtige Rolle. Personen mit hohen Werten in dieser Dimension sind kooperativ, hilfsbereit und zeigen eine höhere Bereitschaft zur Interaktion in Gruppen oder Netzwerken. Für Communitys mit positiver Grundstimmung, Kundenservice-orientierte Dialogformate oder Crowdsourcing-Ansätze kann dies ein entscheidender Hebel sein.

Wer also eine Social-Media-Strategie aufsetzt oder eine aktive Community entwickeln möchte, sollte bei der Segmentierung besonders auf extravertierte, sozial zugängliche Nutzergruppen achten. In diesen Milieus entfalten Kampagnen ihre organische Kraft.

Produktivitätslösungen und digitale Tools: Gewissenhaftigkeit und Offenheit zählen

Im Kontext von B2B-Marketing, SaaS-Produkten oder digitalen Tools zur Effizienzsteigerung sind andere psychologische Merkmale ausschlaggebend. Hier dominieren Conscientiousness (Gewissenhaftigkeit) und Openness to Experience (Offenheit für Neues). Menschen mit hoher Gewissenhaftigkeit zeigen eine strukturierte, zielorientierte Denkweise. Sie sind diszipliniert, planen vorausschauend und suchen nach Lösungen, die Ordnung und Kontrolle fördern.

Diese Nutzer sind besonders empfänglich für Tools, die Prozesse vereinfachen, Zeit sparen oder Transparenz schaffen – ganz gleich, ob es sich um Projektmanagementsoftware, ERP-Systeme oder Planungs-Apps handelt. Je höher der Score in dieser Dimension, desto größer die Wahrscheinlichkeit einer positiven Aufnahme.

Parallel dazu spielt Openness eine zentrale Rolle – insbesondere, wenn es sich um neue oder innovative Lösungen handelt. Menschen mit hoher Offenheit sind intellektuell neugierig, technikaffin und experimentierfreudig. Sie sind eher bereit, neue Softwarelösungen zu testen, Beta-Programme zu nutzen oder sich für funktionale Neuerungen zu begeistern. Ein gezieltes Targeting auf diese psychografische Konstellation kann die Akzeptanz deutlich erhöhen – gerade in der Frühphase eines Produktes oder bei disruptiven Ansätzen.

Lifestyle, Kreativität und Experience-Produkte: Die Bühne für Openness und Extraversion

In Märkten, in denen Individualität, Selbstausdruck und Erlebnisorientierung eine zentrale Rolle spielen – etwa Mode, Reisen, Food oder Interior – sind Openness und Extraversion besonders relevante Persönlichkeitsmerkmale. Kunden in diesen Bereichen suchen oft nach Inspiration, neuen Eindrücken und emotionalen Momenten.

Openness signalisiert hier die Bereitschaft, über den Tellerrand zu blicken. Personen mit hohen Werten in dieser Dimension schätzen Vielfalt, Ästhetik und Kreativität. Sie sind eher bereit, sich auf neue Stile, Produkte oder Marken einzulassen – vor allem, wenn diese authentisch und gut inszeniert sind. Diese Offenheit kann sowohl für Design-orientierte Produkte als auch für Content-Marketing in Form von visuellen Geschichten oder Markenwelten von Vorteil sein.

Kombiniert mit Extraversion entsteht eine besonders konsumfreudige Zielgruppe: kommunikativ, sichtbar, mobil. Diese Menschen sind häufig auch selbst Produzenten von Content – ob über Instagram, Pinterest oder TikTok. Für Marken, die auf Visibility und Trendsetting setzen, ist diese psychografische Kombination strategisch wertvoll.

Finanzen, Versicherungen und Verträge: Verlässlichkeit und Sicherheitsbedürfnis im Fokus

In eher rational geprägten Märkten, in denen Vertrauen, Planung und Sicherheit dominieren – etwa bei Banken, Versicherungen oder langfristigen Vertragsmodellen – ist die Dimension Conscientiousness erneut von Bedeutung. Kunden mit hoher Gewissenhaftigkeit sind risikoavers, recherchieren gründlich und bevorzugen klare Strukturen. Sie reagieren positiv auf transparente Konditionen, nachvollziehbare Argumente und langfristige Partnerschaften.

Darüber hinaus kann in solchen Kontexten auch Neuroticism (Neurotizismus) eine Rolle spielen – allerdings mit Vorsicht. Diese Dimension beschreibt die emotionale Labilität eines Individuums, etwa in Bezug auf Sorgen, Stressanfälligkeit oder Ängstlichkeit. In Marketingstrategien, die auf Sicherheit und Risikominimierung setzen, kann ein moderater Neurotizismus-Score tatsächlich zur Relevanz beitragen – etwa durch die Betonung von Schutzmechanismen oder Versicherungsversprechen. Allerdings ist hier besondere Sorgfalt geboten: eine zu starke oder manipulative Ansprache emotional vulnerabler Gruppen ist ethisch problematisch und langfristig schädlich für das Markenvertrauen.

Selfcare, Mental Health und Coaching: Empathie trifft Sensibilität

Im wachsenden Segment rund um Gesundheit, Wohlbefinden, Achtsamkeit oder psychologische Entwicklung ist ein anderes psychografisches Profil ausschlaggebend. Hier spielen Agreeableness und Neuroticism (in seiner konstruktiven Lesart) eine Schlüsselrolle. Menschen mit hoher Verträglichkeit sind empfänglich für empathische Kommunikation, Hilfsangebote und soziale Unterstützung. Sie legen Wert auf harmonische Beziehungen und sind offen für persönliche Entwicklung.

Gleichzeitig zeigt sich, dass ein gewisses Maß an emotionaler Sensibilität – wie es durch moderaten Neurotizismus ausgedrückt wird – häufig mit einer gesteigerten Offenheit für Coaching, Selbstreflexion oder mentale Gesundheitsthemen einhergeht. In solchen Kontexten geht es nicht um Pathologisierung, sondern um Resonanz: Eine feinfühlige, wertschätzende Ansprache auf Basis psychografischer Segmentierung kann hier echte Mehrwerte schaffen – sowohl für Nutzer*innen als auch für Anbieter.

E-Mail- und Direktmarketing: Wer reagiert wie auf direkte Ansprache?

Nicht zuletzt stellt sich die Frage, welche psychografischen Merkmale das Verhalten in klassischen Direktmarketing-Kanälen beeinflussen. Hier zeigt sich ein interessantes Zusammenspiel zwischen Conscientiousness und Extraversion. Gewissenhafte Personen tendieren dazu, auf klar strukturierte Informationen zu reagieren – etwa in Form von Aktions-Mails, Angeboten oder Service-Hinweisen. Sie bevorzugen Ordnung, Nachvollziehbarkeit und konkrete Handlungsaufforderungen.

Extravertierte hingegen neigen zu spontanerem Verhalten und reagieren häufig auf emotionale oder impulsstarke Inhalte. Eine Einladung zum Event, ein Überraschungselement oder eine expressive Bildsprache kann hier stärker wirken als rationale Argumente. Im Mix lassen sich diese Zielgruppen gut differenzieren – und mit entsprechenden Inhalten optimal bespielen.

Fazit: Selektive Relevanz statt vollständiger Anwendung

Das OCEAN-Modell bietet eine enorm vielseitige Grundlage für differenziertes Marketing – doch es muss nicht immer vollständig eingesetzt werden. Der gezielte, kontextbezogene Einsatz einzelner Dimensionen ermöglicht eine passgenaue, ressourcenschonende und ethisch reflektierte Umsetzung psychografischer Strategien.

Für Marketing-Entscheider bedeutet das: Es lohnt sich, bei jeder Kampagnenkonzeption bewusst zu hinterfragen, welche Persönlichkeitsmerkmale tatsächlich einen Einfluss auf das Verhalten oder die Entscheidung der Zielgruppe haben – und das Scoring-Modell entsprechend fokussiert aufzubauen. So entsteht ein psychografisches Targeting, das nicht nur intelligent ist, sondern auch verantwortungsvoll.

Hier nochmals der Beitrag in einer Tabelle zusammengefasst:

Zielsetzung oder KampagnentypRelevante Dimension(en)Begründung
Social Media / Community-AufbauExtraversion, AgreeablenessOffenheit und Kontaktfreudigkeit prägen Engagement
Produktivität / Tools / Software-as-a-ServiceConscientiousness, OpennessPflichtbewusstsein & Offenheit für Neues sind zentral
Lifestyle & Kreativität (z. B. Reisen, Mode)Openness, ExtraversionInnovationsfreude und Reizoffenheit dominieren
Finanzen, Versicherungen, VerträgeConscientiousness, Neuroticism (moderat)Sicherheitsbedürfnis und Verlässlichkeit relevant
Wellbeing / Selfcare / CoachingNeuroticism (kontrolliert), AgreeablenessSensibilität & Empfänglichkeit für psychologische Themen
E-Mail-/Direct-Marketing (Conversion-Ziel)Conscientiousness, ExtraversionPlanbarkeit & Impulskontrolle vs. Reaktionsfreude

Kommentare

Eine Antwort zu „Welche OCEAN-Dimensionen sind im Marketing wirklich relevant? Eine praxisnahe Orientierung für datengetriebene Entscheider“

  1. Avatar von A WordPress Commenter

    Hi, this is a comment.
    To get started with moderating, editing, and deleting comments, please visit the Comments screen in the dashboard.
    Commenter avatars come from Gravatar.